Das Bundesarbeitsgericht hatte sich in seiner Entscheidung vom 26.04.2022 (9 AZR 367/21) mit folgender Thematik zu befassen:
Ein Arbeitnehmer war schon viele Jahre bei einem Arbeitgeber (in Vollzeit) beschäftigt. Der Arbeitgeber wusste, dass der Arbeitnehmer einen Antrag auf Anerkennung einer Schwerbehinderung gestellt hat. Er wusste auch, dass dieser durch Bescheid vom 24.11.2017 zurückgewiesen wurde.
Im März 2019 nun erfuhr der Arbeitgeber, dass unser Kläger zwischenzeitlich erfolgreich Widerspruch und Klage geführt hatte. Mit Bescheid von März 2019 wurde ein GdB von 50 anerkannt und zwar rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung, nämlich zum 11.08.2017.
Man ahnt jetzt schon, was das Problem ist. Genau. Unser Kläger macht nun (April 2019) Zusatzurlaub (gem. § 208 SGB IX) geltend und zwar rückwirkend für die Jahre 2017 und 2018.
Der Arbeitgeber meint, der Anspruch sei mit Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres verfallen.
Erstinstanzlich hat unser Arbeitnehmer verloren, zweitinstanzlich (vor dem LAG) gewonnen. Und beim Bundesarbeitsgericht? Hat er teilweise gewonnen:
Unstreitig hat der Arbeitnehmer “eigentlich” zwei Tage Zusatzurlaub in 2017 erworben und 5 Tage in 2018. So steht es jetzt in § 208 SGB IX (damals war das der § 125). Es kommt nämlich hierbei “nur” darauf an, ob ein Arbeitnehmer schwerbehindert ist oder nicht. Wann die Behörde das feststellt, ist insofern egal.
Also Zwischenfazit: Der Zusatzurlaub ist entstanden.
Jetzt kommt das Thema mit der europarechtskonformen Auslegung des deutschen Urlaubsrechts (des BUrlG). Nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfällt der Urlaub bekanntlich am Ende des Urlaubsjahres. Die beiden Ausnahmen, die dazu führen, dass er bis zum 31.03. des Folgejahres genommen werden darf, lasse ich der Einfachheit halber einmal weg.
Der Verfall tritt aber nach der Rechtsprechung des EuGH nur ein, wenn der Arbeitgeber “konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dazu muss er den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahrs oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt” (vgl. auch Rn. 11 des Urteils).
Jetzt sagt das BAG noch etwas wichtiges. Nämlich dass der Anspruch auf Zusatzurlaub gar nicht den unionrechtlichen Vorgaben unterliegt (denn die Mitgliedstaaten können Urlaub, der über den Mindestjahresurlaub von vier Wochen hinaus geht, grds. frei regeln. Aber: Die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung sind nach dem BAG dieselben.
Zwischenfazit: Das mit der Mitwirkung des Arbeitgebers (“Nimm´ Deinen Urlaub, sonst ist er weg!”) gilt auch für den Zusatzurlaub Schwerbehinderter (nach § 208 SGB IX).
Aber: Was, wenn der Arbeitgeber gar nicht auffordern und hinweisen konnte, weil er gar nichts von dem Zusatzurlaub wusste?
Antwort des BAG: Dann verfällt der Anspruch auf Zusatzurlaub auch dann mit Ablauf des Urlaubsjahres (bzw. des einschlägigen Übertragungszeitraums), wenn der Arbeitgeber nicht aufgefordert und hingewiesen hat (vgl. BAG, Urteil vom 30.11.2021 – 9 AZR 143/21 – Rn. 20 ff. mit ausführlicher Begründung).
Der (anteilige) Zusatzurlaub aus 2017 ist aber trotzdem nicht verfallen (der aus 2018 aber schon). Warum das denn?
Weil der Arbeitgeber von dem Antrag auf Anerkennung einer Schwerbehinderung wusste. Nun gibt es nur zwei Möglichkeiten:
Entweder, der Arbeitgeber geht davon aus, dass sein Arbeitnehmer tatsächlich schwerbehindert ist. Dann hätte er unseren Kläger problemlos auffordern können, den (vorsorglich von ihm gewährten) Zusatzurlaub zu nehmen und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass dieser Zusatzurlaub aber verfällt, wenn er nicht beantragt wird.
Oder er geht davon aus, dass sein Arbeitnehmer nicht schwerbehindert ist und wartet den Ausgang des Anerkennungsverfahrens ab. Dann riskiert er aber nach Ansicht des BAG, den Zusatzurlaub auch noch nach Ablauf des Urlaubsjahres gewähren zu müssen, wenn sich herausstellt, dass sein Arbeitnehmer aber doch schwerbehindert ist.
Jetzt kommt aber der Zeitpunkt, wo das Versorgungsamt den Antrag zurückweist. An dieser Stelle enden dann sozusagen die Aufforderungs- und Hinweispflichten des Arbeitgebers, wenn er zwar von der Zurückweisung des Antrags erfährt, aber nicht, dass sein Arbeitnehmer mit Widerspruch und Klage dagegen vorgeht. So wie im Fall hier. Unser Kläger hat ihm nicht mitgeteilt, dass er den ablehnenden Bescheid nicht hinnimmt, sondern dass er Rechtsmittel dagegen einlegt.
Hier sagt das BAG nun, dass der Arbeitgeber davon ausgehen durfte, dass sich die Sache mit der Schwerbehinderung erledigt hat. Also hatte er auch keinen Anlass, vorsorglich Zusatzurlaub zu gewähren und aufzufordern und hinzuweisen. Vereinfacht gesagt.
Folge: Der 2017er Zusatzurlaub besteht noch (weil der Arbeitgeber nicht mitgewirkt hatte), der 2018er Zusatzurlaub ist (Ende 2018) verfallen (weil das so im Gesetz steht und der Arbeitgeber auch nicht mitwirken musste, weil er nichts von Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung wusste).
Abschließend hat das BAG auch noch einmal klargestellt, dass die in Verdienstbescheinigungen ausgewiesenen Urlaubstage ohne Bedeutung sind. Darin liegt insbesondere nicht die bindende Erklärung, die ausgewiesenen Urlaubstage auch tatsächlich gewähren zu wollen.
Theoretisch hätte es auch sein können, dass im Betrieb die Übung bestand, dass nicht genommener Urlaub immer “anstandslos” übertragen wurde. Dass es so war, konnte unser Kläger aber nicht beweisen. Also war der 2018er Zusatzurlaub “futsch”. Sein Fehler: Er hätte den Arbeitgeber informieren sollen, dass er gegen den anlehnenden Bescheid des Versorgungsamts vorgeht!
Für Rückfragen steht Ihnen Rechtsanwalt Gordon Neumann, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei WNS Will+Partner Fachanwälte|Rechtsanwälte mbB gerne zur Verfügung.