Früher dachte ich, dass man schon alles erlebt hat, was es gibt. MIttlerweile wundere ich mich über gar nichts mehr.
In Baden-Württemberg hat sich Folgendes zugetragen:
Ein Gesamtbetriebsrat hatte eine Betriebsvereinbarung zum Thema “Prämien” geschlossen, über die nun Streit entstand. In dem Zusammenhang hat der GBR einer größeren Zahl von (Außendienst-)Mitarbeitern eine Email gesendet und diese aufgefordert, den von der Geschäftsleitung vorgegebenen (individuellen) Zielen zu widersprechen. Der GBR würde ein Verfahren zur Einhaltung der besagten GBV einleiten.
Der Arbeitgeber hat den 3 BR-Mitgliedern eine Abmahnung erteilt und diese auch in die Personalakte aufgenommen.
Grund: Die Aufforderung zum Widerspruch stelle einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit (§ 2 BetrVG) und die Friedenspflicht (§ 74 BetrVG) dar.
Für den Fall einer erneuten vergleichbaren Pflichtverletzung wurden betriebsverfassungsrechtliche Schritte angedroht, insbesondere die Einleitung eines Verfahrens nach § 23 BetrVG. [Anmerkung von mir: Nach § 23 Abs. 1 BetrVG kann der Arbeitgeber beim Arbeitsgericht den Ausschluss eines Mitglieds aus dem Betriebsrat oder die Auflösung des Betriebsrats wegen grober Verletzung seiner gesetzlichen Pflichten beantragen]
Die Betriebsratsmitglieder haben das Arbeitsgericht angerufen und die Entfernung der Abmahnungen aus ihren Personalakten verlangt. Außerdem hat der Betriebsrat als Gremium (in demselben Verfahren) beantragt, festzustellen, dass die Abmahnungen unwirksam sind.
So hat das Gericht entschieden (Arbeitsgericht Stuttgart, Beschluss vom 30.04.2019 – 4 BV 251/18):
Der Arbeitgeber muss die Abmahnungen aus den Personalakten der BR-Mitglieder entfernen. Außerdem hat das Gericht festgestellt, dass die Abmahnungen unwirksam sind.
Interessant finde ich folgende Erwägungen des Gerichts:
Es kommt vorliegend gar nicht darauf an, ob die BR-Mitglieder durch das Versenden der E-Mail gegen betriebsverfassungsrechtliche Pflichten verstoßen haben. Die Abmahnungen sind bereits deshalb aus den Personalakten zu entfernen, weil der Arbeitgeber den Vorwurf einer Amtspflichtverletzung mit der Androhung eines Antrags nach § 23 BetrVG verbunden hat und dies mit dem Arbeitsverhältnis der Betriebsratsmitglieder nichts zu tun hat. Es liegt also eine unzulässige Vermengung von individualrechtlichen und betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten vor; eine betriebsverfassungsrechtlichen Abmahnung betrifft allein das kollektivrechtliche Verhältnis zwischen Betriebsrat (bzw. einzelnem BR-Mitglied) und Arbeitgeber und hat deshalb in der Personalakte nichts zu suchen.
” Normalerweise” darf ein Betriebsrat nicht auf Feststellung der Unwirksamkeit einer gegenüber seinen Mitgliedern ausgesprochenen Abmahnung klagen. So sieht es das Bundesarbeitsgericht.
Im vorliegenden Fall hat das Gericht den Antrag allerdings ausnahmsweise für zulässig erachtet. Es bestehe ein praktisches Bedürfnis an der Zulassung der Feststellungsklage, weil der BR ein berechtigtes Interesse daran hat, zu erfahren, ob die Abmahnungen für ein künftiges Verfahren gemäß § 23 BetrVG auf Auflösung des Betriebsrats bzw. Ausschluss von Mitgliedern von Relevanz sind oder nicht.
Der Arbeitgeber hat argumentiert, dass ein solcher Feststellungsantrag unzulässig wäre und stattdessen ein Leistungsantrag hätte gestellt werden müssen. Dazu ist zu sagen, dass es tatsächlich den Grundsatz des Vorrangs der Leistungsklage vor einer Feststellungsklage gibt. Das liegt daran, dass ein Kläger mit einer Leistungsklage sein Ziel effektiver erreichen kann als mit einer “bloßen” Feststellungsklage, mit der das Gericht sozusagen einfach nur feststellt, ob etwas so oder so ist.
Beispiel: Ein Arbeitnehmer wehrt sich gegen eine erteilte Abmahnung. Dann muss er den Arbeitgeber verurteilen lassen, die Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen. Er könnte zwar auch theoretisch die Feststellung beantragen, dass die Abmahnung unwirksam ist. Man erkennt aber sofort, dass das Rechtsschutzziel des Klägers viel effektiver erreicht wird, wenn der Arbeitgeber die Abmahnung entfernen muss. Das hilft dem Arbeitnehmer mehr als ein Urteil in dem drin steht, dass die Abmahnung unwirksam wäre, die aber immer noch in der Personalakte ist und wo kein Mensch, der diese Abmahnung liest, etwas von dem Urteil weiß.
Trotz dieses Grundsatzes sagt das Gericht im vorliegenden Fall, dass ein Feststellungsantrag des Gremiums gerichtet auf Unwirksamkeit der erteilten Abmahnungen ausnahmsweise zulässig ist.
Das Gericht wüsste nicht, welchen Leistungsantrag das Gremium sonst stellen sollte. Es diskutiert dann die mögliche Beantragung der Entfernung der Abmahnungen aus den Akten, die für die Zusammenarbeit und Korrespondenz mit dem Betriebsrat geführt werden und verwirft diese Möglichkeit, weil nicht einmal klar ist, ob der Arbeitgeber überhaupt spezielle Akten über die Zusammenarbeit und Korrespondenz mit dem Betriebsrat führt und ob die Abmahnungen überhaupt dort hinein gelangt sind.
Auch kommt ein möglicher Antrag auf Rücknahme der Abmahnungen nicht in Betracht.
Ein Antrag auf Rücknahme ist mehrdeutig und unbestimmt, weil Rücknahme einerseits bedeuten kann, dass der Arbeitgeber unwahre Tatsachenbehauptungen widerruft. Andererseits kann es bedeuten, dass der Arbeitgeber seine Meinung ändert und selbst von der Unwahrheit oder fehlenden Berechtigung des Abmahnungsvorwurfs überzeugt sein soll.
Der Widerruf unwahrer Tatsachenbehauptungen kommt nicht in Betracht, weil die streitgegenständlichen Abmahnungen gar keine Tatsachenbehauptungen beinhalten. Betriebsrat und Arbeitgeber streiten sich lediglich darüber, ob das Verhalten der BR-Mitglieder rechtlich eine Verletzung der Pflichten aus §§ 2, 74 BetrVG darstellt.
Auch kann der BR schlecht beantragen, den Arbeitgeber zum Widerruf seiner Rechtsansicht verurteilen zu lassen. Niemand kann gegen seinen Willen gezwungen werden, seine Rechtsauffassung zu ändern. Abgesehen davon geht es dem BR gar nicht darum, dass der Arbeitgeber seine Rechtsansicht ändern soll. Es geht ihm darum, dass die Abmahnungen für ein etwaiges künftiges Ausschlussverfahren nach § 23 BetrVG ohne rechtliche Wirkung sind.
Inhaltlich ist meiner Meinung nach wichtig, dass nach Ansicht des Gerichts vieles dafür spräche, dass betriebsverfassungsrechtliche Abmahnungen gegenüber dem Betriebsrat als Gremium oder gegenüber seinen Mitgliedern per se unzulässig sind.
Zur Begründung wird angeführt, dass eine vorherige Abmahnung einer Amtspflichtverletzung eines BR-Mitglieds in Vorbereitung eines Ausschlussantrags nach § 23 BetrVG nicht vorgesehen ist. Sie ist auch nicht erforderlich. Ein BR-Mitglied kann ausgeschlossen werden bei besonders schwerwiegenden Pflichtverletzungen, die unter Berücksichtigung aller Umstände eine weitere Amtsführung untragbar werden lassen. Diese Anforderung passt sozusagen nicht mit der Warnfunktion einer Abmahnung zusammen.
Letztlich lässt das Gericht die Frage offen, weil nicht jeder kleine Verstoß gegen das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit oder die Friedenspflicht abmahnfähig ist. Erforderlich wäre jedenfalls eine gewisse Erheblichkeit des Pflichtenverstoßes. Eine solche sieht das Gericht nicht:
Man war sich uneinig über eine Gesamtbetriebsvereinbarung. Der Betriebsrat hat gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Rechtsvorschriften ordnungsgemäß eingehalten und durchgeführt werden. Insofern war er auch berechtigt, die Arbeitnehmer auf die aus seiner Sicht zutreffende Auslegung der Betriebsvereinbarung hinzuweisen und über den Stand der Verhandlungen zu unterrichten.
Die Information über eine Meinungsverschiedenheit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat und die Darlegung der rechtlichen Auffassung des Betriebsrats ist zulässig (LAG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.09.2008 – 2TaBV 25/08).
Der Betriebsrat darf auch Mitarbeiter mit dem Ziel informieren, dass diese von ihren individuellen Rechtsschutzmöglichkeiten – bis hin zur Klage – sachgerechten Gebrauch machen können.